Auf dieser Webseite ist etwas Material zu dem Buch »Die Weserballaden« von Michael Korth und Klaus Pitter versammelt

Hier ist die von Michael Korth vertonte und vorgetragene Rattenfänger-Ballade mit den Illustrationen von Klaus Pitter als Video bzw. Diashow mit Ton:


Über Flüsse und Balladen

(der folgende Text ist als Vor- und Nachwort im Buch »Die Weserballaden« enthalten)

Flüsse haben seit Urzeiten ihre eigene Magie. Man kennt zwar ihre Quellen und ihren Verlauf bis zur Mündung ins Meer, in einen größeren Fluss oder in einen See. Aber niemand erkennt das Geheimnisvolle, das sich unter der Wasseroberfläche abspielt und die unheimlichen Wesen, die dort leben. Denn jeder Fluss ist ein Gestaltwandler, der täglich sein Erscheinen verändert. Am Sommertag friedlich dahinströmend, verwandelt er plötzlich Aussehen und Charakter, tritt über die Ufer, reißt ihn störendes aus der Erde und zerstört es, bis er sich ausgetobt hat und in sein altes Bett zurückkehrt.

Das Rätselhafte der Flüsse wurde vom Volksmund in Sagen vom Vater Rhein oder der Saalenixe personifiziert und dadurch ihr Wesen erklärt. Aber nicht nur die Wassergeister regten die Phantasie der Schiffer, Flößer, Schatzsucher, Fischer und Uferbewohner an, sondern auch sonderbare Gestalten, die von irgendwoher auf dem Wasser oder am Ufer auftauchten und seltsame Geschehnisse bewirkten.

Jeder Fluss hat die Kraft, für seine Anwohner identitätsstiftend zu wirken. Fast alle Menschen, die in der Nähe eines Flusses leben, fühlen sich diesem Fluss emotional verbunden, weit mehr jedenfalls als ihrem Bundesland oder ihrem Landkreis. Durch die jahrhundertealten Erzählungen besitzt jeder Fluss seine eigenen Gestalten, Geister und Geschichten.

Am Rhein leben die Erzählungen und Lieder von der Lorelei; berichten Balladen, Filme und Opern über den Schatz der Nibelungen; wird im Märchen die Geschichte der Heinzelmännchen erzählt oder durch ein Musiktheaterstück das Abenteuer der Hexe vom Kölner Dom. An der Donau wird über das Donauweibchen und die schöne Lau berichtet. An der Elbe sollen Nixen und Wassermänner Unvorsichtige auf den Grund ziehen und mit ihrem Liebeszauber gefangen nehmen. Und in der Elbestadt Wittenberg hat sich nach alter Überlieferung Dr. Faust dem Teufel verschrieben und sein schreckliches Ende gefunden. Ein deutscher Fluss aber erlangte mit drei Sagen Weltberühmtheit.

Das ist die Weser mit ihrer Legende vom Rattenfänger von Hameln, den herrlichen Lügengeschichten des Barons von Münchhausen und dem wunderbar bildhaften Märchen von den Bremer Stadtmusikanten.

Die Frage stellt sich, warum diese drei Mythenstoffe auf der ganzen Welt die Menschen ansprechen und ergreifen. Beim Rattenfänger ist es klar. Eine Institution, in diesem Fall der

Stadtrat von Hameln, bittet einen Künstler um Hilfe und schließt einen Vertrag mit ihm.

Nachdem es dem Künstler durch sein Zauberflötenspiel gelungen ist, die Rattenplage zu beenden, verweigert ihm der Stadtrat das vereinbarte Geld für die Arbeit und treibt ihn aus der Stadt. Darauf rächt sich der Künstler, indem er das Wertvollste der Stadt – die Kinder – mitnimmt. In unserer Neufassung der Geschichte aber ist der Rattenfänger kein Bösewicht, sondern er macht aus den Kindern Künstler und gute Menschen.

Den berühmten Lügenbaron gab es wirklich. Er hieß Hieronymus von Münchhausen aus Bodenwerder. Dort erzählte er seinen Freunden seine geistreichen Lügengeschichten, wie den berühmten Ritt auf der Kanonenkugel oder seine Selbsthilfe vorm Ertrinken, indem er sich am

eigenen Haar aus dem Sumpf zog. Warum hatten seine Lügenmärchen solch großen Erfolg? Weil er sich selbst als

einen Mann schildert, der auch in hoffnungslos scheinenden Situationen nicht aufgibt, sondern seinen Verstand benutzt, um sich durch köstlich-originelle Lösungen zu retten.

Die Bremer Stadtmusikanten sind allein wegen ihrer grandiosen Erscheinung als Tierpyramide – unten der Esel, darauf der Hund, dann die die Katze oder obendrauf der Hahn – ein einzigartiges, unvergessliches Logo von der Qualität des Don Quixote beim Kampf mit den Windmühlen. Vier arme, von Menschen geschundene Tiere, beschließen, sich nicht unterkriegen zu lassen, weil der Esel ihnen mit der Weisheit „Wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall“ Hoffnung gemacht hat. Später verbünden sich die vier, angefeuert von Ruf des Hahns „Um Freiheit muss man kämpfen, man kriegt sie nicht geschenkt!“ mit den Waldtieren. Sie jagen die bösen Räuber in die Flucht und musizieren für ihre neuen Freunde, nachdem wieder Friede im Wald herrscht.

Diese mutmachenden Geschichten über den Freiheitskampf Unterlegener, die nicht aufgeben und sich mutig gegen Ungerechtigkeit und Verzweiflung wehren, begeistern Menschen auf der ganzen Welt. Im Mut, sich aus ausweglos scheinenden Situationen befreien zu wollen, besteht das Geheimnis des Erfolges der herrlichen Weserballaden.


Das Wort Ballade kommt vom lateinischen ballare „tanzen“. Daher stammt auch unser Wort »Ball« für eine Tanzveranstaltung. Die provenzalischen Trobadors, die im Mittelalter um 1200 die Minnekultur erfanden, bezeichneten damit eine Gattung des Tanzliedes. Die deutschen Minnesänger verwendeten den Begriff nicht, obwohl sie nicht nur viele Formen und Inhalte von den provenzalischen Dichterkomponisten übernahmen, sondern auch deren Singweisen. Deutsche Balladen mit eigener Melodie gab es bereits seit dem 12. Jahrhundert. Manche lebten im Spätmittelalter bei den Meistersingern und im Volksmund weiter. Das heißt, diese balladenartigen Lieder wurden tatsächlich gesungen. Diese Tradition war nichts Neues, denn seit der Antike wurden überall in Europa Geschichten zum Tanz gesungen. Oft war der Dichter nicht nur zugleich der Komponist der Ballade, sondern auch der Vortänzer des Reigentanzes. Die Teilnehmer des Tanzes sangen den Refrain mit. Diese Form ist bis heute z.B. auf den Färöer-Inseln lebendig. Dichtung, Gesang und Tanz bildeten immer eine Einheit.
Ab dem 18. Jahrhundert erlebte die deutsche Ballade als gereimte Geschichte in Strophen, jedoch ohne Melodie, eine Renaissance, als Dichter wie Goethe (Erlkönig), Schiller (Die Bürgschaft), oder Clemens Brentano (Lore Lay) sich von der dichterischen Form inspirieren ließen. Viele Texte dieser „Dichter-Balladen“ wurden später von Komponisten vertont (z.B. Goethes Erlkönig von Franz Schubert). Berthold Brecht sang seine Seeräuber-Ballade selbst zur Gitarre auf eine französische Melodie. Die Balladen von Franz Joseph Degenhardt (Schmuddelkinder), Wolf Biermann (In China hinter der Mauer), Herbert Grönemeyer oder Gisbert zu Knyphausen entstanden in Verbindung mit den Melodien. In dieser neuen, in Wirklichkeit uralten Form entwickelten auch Joni Mitchell, George Brassens, Bob Dylan oder Björk ihre Balladen, um ein paar Beispiele in anderen Sprachen nennen.
Auch die Weserballaden folgen der alten Tradition. Jeder der drei anonymen Mythenstoffe wurde auf eine eigene Melodie gedichtet. Deshalb hat jede Weserballade eine eigene Strophenstruktur. Im Gegensatz zur „Dichter-Ballade“ des 18. und 19. Jahrhunderts, die ja hauptsächlich für ein gebildetes Lesepublikum bestimmt war, wurden die uralten Balladen zum Tanz gesungen. Sie hatten nicht unbedingt immer die gleiche Silbenanzahl: manche Verse waren kürzer (sie verfügten über sogenannte Tonbeugungen), manche waren länger (sogenannte Additionen). Das lag nicht an der Unfähigkeit der Dichter, genau Silben zählen zu können. Diese differierenden Silbenlängen machten die Verse lebendiger. Ebenso erhielten im Gegensatz zu den aus der „Lesedichtung“ bekannten reinen Reime bei den gesungenen Volksballaden durch assonierende Reime mehr Klangfülle. Beispiel: Er blickt sie an, er seufzet schwer / er schneidet ab ihr güldnes Haar.
Bei den Weserballaden wird versucht, an die ursprüngliche Art der uralten Balladenform heranzukommen. Den vollständigen Eindruck einer Ballade erlebt das Publikum allerdings erst, wenn es durch den Sänger in das Geschehen hineingezogen die Abenteuer erlebt. Im Fall der vorliegenden Buchform wird dieser Mangel durch die mitreißenden Bilder ausgeglichen.

M.K.


Beispielseiten aus dem Buch: