von Martin Regenbrecht

Anfang des Jahres 2022 nahm ich zufällig Schopen­hauers Aphorismen zur Lebensweisheit zur Hand und stolperte gleich auf der ersten Seite über den Satz:

»Als in ähnlicher Absicht, wie gegenwärtige Aphorismen, abgefasst, ist mir nur das sehr lesenswerte Buch des Cardanus De Utilitate Ex Adversis Capienda erinnerlich.«

Cardanus? Der Name sagte mir gar nichts. Aber der entsprechende Wikipedia-Eintrag machte neugierig auf mehr: Girolamo Cardano (1501–1573), »einer der letzten großen Universalgelehrten der Renaissance«, Verfasser von weit über 100 Büchern, damals europaweit berühmt. Er war Arzt, Gelehrter, bedeutender Mathematiker, hat Bücher über Medizin, Astronomie, Traumdeutung, Spiel­theorie, Naturphilosophie, Astrologie u.v.m. geschrieben. Nach ihm ist die Kardanwelle benannt, die kardanische Aufhängung und neuerdings auch eine Kryptowährung.

So begann ich nach dem von Schopenhauer empfohlenen Text zu suchen, vielleicht existierte eine alte Ausgabe, die ich neu veröffentlichen könnte. Doch ich fand lediglich eine Jahrhunderte alte Version des lateinischen Originals im Internet. Der Umfang: fast 1000 Seiten! Eine deutsche Übersetzung hat es nie gegeben. Auch nicht in einer anderen Sprache.

Die Suche nach weiteren Werken Cardanos ergab: Nur ein einziges ist je auf Deutsch erschienen: Des Girolamo Cardano von Mailand (Bürgers von Bologna) eigene Le­bensbeschreibung, übertragen und eingeleitet von Hermann Hefele, Jena, 1914. Der Originaltitel ist deutlich knapper: De Propria Vita, etwa 1570 entstanden.[1] Immer wieder tauchte bei meinen Recherchen der Titel De Subtilitate auf, es zeigte sich, dass dies als Cardanos Hauptwerk gilt. Davon existierte immerhin eine Ausgabe in einer modernen Sprache: The »De Subtilitate« of Girolamo Cardano, edited by John M. Forrester. With an introduction by John Henry and John M. Forrester. Eine kritische englische Ausgabe aus dem Jahr 2013. Zwei Bände, über 1000 Seiten. Das bedeutete erst einmal: Ende der Suche. Schopenhauers Empfehlung konnte ich nicht folgen, zu aufwendig. – Aber nach einigen Tagen hatte ich plötzlich eine etwas verrückte Idee: Zwar ist es nicht möglich, das von Schopenhauer empfohlene Buch herauszubringen. Aber wie wäre es mit De Subtilitate? Wie wär’s, wenn ich die englische Ausgabe ins Deutsche übersetze? Denn sie hat einen modernen Buchsatz, also müsste eine OCR, die einen Scan in Text umwandelt, gute Ergebnisse erzielen. Und das könnte man mithilfe von DeepL grob vorab übersetzen. Trotz der technischen Hilfen wäre es ein Mammutprojekt.

De Subtilitate – Von der Feinheit der Welt und des Denkens

Was ist De Subtilitate für ein Buch, worum geht es? Cardano verspricht in der Widmung nichts Geringeres als »die vollständige Darstellung des Universums in einem Band«. Er fügt hinzu, »dass der, der das hier Geschrie­bene begreift, eine vollkommene und vollständige Kenntnis sämtlichen Wissens haben wird«. Damit nicht genug, er sagt, es sei »ein Buch, in dem allein das Große, Schwierigste und Schönste verfolgt werden soll«. Und der Zugang, der Schlüssel zu alldem liegt für ihn in der subtilitas, in der Subtilität.

De Subtilitate ist ein phantastischer Bilderbogen, der das gesamte Wissen des 16. Jahrhunderts darzustellen versucht. Es liefert eine Fülle an Gedanken über den grundlegenden Aufbau der Welt, über den Kosmos, die Elemente, Tiere, Pflanzen, Metalle, Gesteine. Dazu behandelt es eine riesige Anzahl von alltäglichen, teilweise skurrilen Themen, beispielsweise: Wie groß ist ein Regenbogen? Welche Arten von Giften gibt es? Wie hebt man gesunkene Schiffe? Welche Heilpflanzen verwenden Tiere, wenn sie krank sind? Welcher Edelstein schützt am besten vor Unfällen? Warum gibt es eigentlich keine giftigen Vögel? Warum gibt es so viele verschiedene menschliche Sprachen? Wie entlarvt man Scharlatane und Betrüger? Es geht um Brückenbau, Geheimschriften, die Haltbarmachung von Lebensmitteln, um die Existenz von Gespenstern; er liefert zahlreiche Rezepte für Farben, Schnaps, für Cremes zur Pflege der Lippen oder zur Luststeigerung – die Anzahl der Themen ist gewaltig. Dabei zeigt sich Cardano hin und wieder als etwas abergläubisch, trotz seines beständigen Bemühens, alle Erscheinungen, gerade auch die rätselhaften, auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Und ab und zu geht seine Leidenschaft für die Mathematik mit ihm durch, dann schreibt er seitenlange Beweise zu geometrischen Problemstellungen.

Einige Zeitgenossen kritisierten an dem Buch, dass es neben den großen Fragen über den Aufbau der Welt so viele kleine, unbedeutend erscheinende Themen behandelt. Aber aus heutiger Perspektive ist das hier dargestellte Alltagswissen vermutlich viel interessanter als die zum größten Teil völlig überholten naturphilosophischen Ausführungen.

De Subtilitate erlebte zahlreiche Neuauflagen bis hin zu einer umfangreichen Gesamtausgabe von Cardanos Werken knapp hundert Jahre nach seinem Tod. Nicht nur Schopenhauer schätzte Cardano, auch beispielsweise von Lessing oder Goethe ist dies bezeugt. Doch im Laufe der Zeit ist er in Vergessenheit geraten, so weit, dass heute fast niemand mehr seinen Namen kennt. Zu Unrecht, wie Forrester schreibt, sein Werk sei wie ein »riesiger blühender Garten«, in dem wir wie kleine Raupen nur winzige Bereiche erkunden können.

»Schließlich haben wir zu bemerken, dass bei Cardan eine natürlichere Art, die Wissenschaften zu behandeln, hervortritt. Er betrachtet sie überall in Verbindung mit sich selbst, seiner Persönlichkeit, seinem Lebensgange, und so spricht aus seinen Werken eine Natürlichkeit und Lebendigkeit, die uns anzieht, anregt, erfrischt und in Tätigkeit setzt. Es ist nicht der Doktor im langen Kleide, der uns vom Katheder herab belehrt; es ist der Mensch, der umherwandelt, aufmerkt, erstaunt, von Freude und Schmerz ergriffen wird und uns davon eine leidenschaftliche Mitteilung aufdringt.«

Goethe, Farbenlehre

Schwierigkeiten der Übersetzung

Es ist zugegeben an manchen Stellen etwas mühsam, Cardano zu verstehen, die beiden Übersetzer Cardanos (Forrester für De Subtilitate und Hermann Hefele für Cardanos Autobiografie) sind sich darin einig, dass er ein miserables und häufig schlicht unverständliches Latein schrieb. Auch Lessing schreibt 1754 in seiner Verteidigungsschrift Cardanos: »Das Latein des Cardan ist so schlecht«, dass er die Passagen, auf die er sich bezieht, auf Deutsch wiedergibt. Dieses schlechte Latein mag der Grund dafür sein, dass das Werk in den über viereinhalb Jahrhunderten seit seiner Entstehung weder auf Deutsch noch in einer anderen modernen Sprache erschienen ist. Umso verdienstvoller ist die einzige Ausnahme, die Ausgabe von Forrester.

Forrester hat zahlreiche Fußnoten gesetzt, die beispielsweise lauten: »Sense unclear« oder »Meaning obscure« oder »The thought is confused and the syntax unclear«. Einen Satz von Forrester ins Deutsche zu übersetzen, den er selbst sinnlos findet, bringt natürlich wenig. Daher war es notwendig, sehr ausführlich auch das lateinische Original heranzuziehen; es ist in mehreren Versionen online zugänglich, die bei Weitem beste ist:

http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/MPIWG:9ZWK0SW9

So habe ich akribisch fast Satz für Satz vergli­chen und wo es nötig war versucht, etwas Konsistentes, Sinnvolles herauszufinden oder in manchen Fällen gar zu konstruieren. An etlichen Stellen bin ich auf diese Weise von Forresters Lösung abgewichen. Dabei mag es auch zu Missverständnissen und Fehlern gekommen sein (Korrekturen und Verbesserungsvorschläge nimmt der Verlag sehr gern entgegen!). Letztlich blieben zahlreiche Stellen, an denen ich Forrester nur zustimmen konnte: meaning obscure.

»Dabei halten wir es mit Aristoteles, der es bei so schwierigen Fragen für ausreichend hält, wenn wir die absurdesten Fehler vermeiden.«

Cardano, De Subtilitate, S. 246

Bei der Übersetzung ins Deutsche war es die ganze Zeit notwendig zu bedenken, dass das, was ich da mache, ein komplexer hermeneutischer Zugang ist: Es handelt sich um die Übersetzung einer Übersetzung. Forrester hat zwar jeden Satz mit aller wissenschaftlichen Sorgfalt übersetzt, dennoch notwendigerweise stets interpretierend. Und die deutsche Übersetzung der englischen Ausgabe interpretiert wiederum Satz für Satz, in der Hoffnung, die Intention Forresters und vor allem Cardanos zu treffen.[2]

Es kommt hinzu, dass das Buch weit über 400 Jahre alt ist. Viele Worte und Begriffe verstehen wir heute völlig anders. Ihnen liegen Subtexte zugrunde, grundlegende Konzepte darüber, wie die Welt gesehen und verstanden wird. Ein Beispiel: An einer Stelle kommt die Formulierung »in concavo lunae« vor. Forrester schreibt »in the concavity of the moon«. Selbst wenn man die Worte versteht, weiß man noch nicht, was gemeint ist. Gedanklicher Hintergrund ist die von Aristoteles stammende und von Ptolemäus perfektionierte Beschreibung der Struktur des Kosmos: Er ist zweigeteilt in sublunar und translunar. Nur in der sublunaren Welt, diesseits des Mondes, gelten die Naturgesetze, existieren die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. In der Welt jenseits der Sphäre des Mondes existiert nur noch das, was Aristoteles Äther nennt, die quinta essentia, die fünfte Essenz. Erst wenn man sich dies bei der Formulierung »in concavo lunae« vor Augen hält, kann man anfangen darüber nachzudenken, ob diesseits oder jenseits der Mondsphäre gemeint ist.

Ein anderes Beispiel: der recht häufig vorkommende Begriff »concoctio«. Das Wort tritt als Substantiv, Adjektiv und Verbform auf. Forrester übersetzt es ins Englische mit »concoction« oder »concocted«, auf Deutsch kann man leider nicht entsprechend verfahren. Der Begriff verweist auf ein komplexes Konzept der über zwei Jahrtausende in Europa vorherrschenden Viersäftelehre oder Humoralpathologie, die in der Hippokratischen und Galenischen Medizin ihren Ursprung hat. »Concoctio« bedeutet wörtlich »zusammenkochen«, aber es wird auch mit Verdauung, Gebräu, Zusammengebrautes übersetzt, es geht dabei nicht um eine mechanische oder chemische Verbindung, sondern um einen teils biologischen Prozess.

Aber auch bei einfacheren Begriffen gab es oft Schwierigkeiten, etwa bei den Be­zeichnungen von Tieren, Pflanzen oder Mineralien. Das liegt unter anderem daran, dass viele dieser Benennungen damals noch nicht normiert waren, Carl von Linné lebte ja erst lange nach Cardano. Selbst Forrester mit seinem großen universitären Netzwerk an Fachwissen, auf das er zugreifen konnte, musste bei den Benennungen öfters ungenau bleiben. Eine eindeutige Zuordnung war ebenfalls bei zahlreichen geografischen Namen nicht möglich.

»Doch lassen wir dies und freuen wir uns der blühenden Wiese unseres Lebens.«

Cardano, Autobiografie

Insgesamt bietet De Subtilitate neben manchmal etwas zähen Passagen eine gewaltige Menge an verständlichen, konkreten und oft überaus staunenswerten Überlegungen. Man könnte vielleicht sagen: Cardanos Buch ist wie eine Mischung aus Aristoteles, einem modernen Ratgeber und einer TerraX-Dokumentation. Oder auch wie eine riesige Wunderkammer des Wissens.

Kritiker

Cardano war ein streitbarer Mensch, er war überaus prozessfreudig und machte sich zahlreiche Feinde. Das bekennt er recht freimütig in seiner Autobiografie (wie überhaupt diese Autobiografie herausragend ist in ihrer schonungslosen Offenheit eines Menschen sich selbst gegenüber). Ein zu späteren Zeiten erhobener Vorwurf lautete, er sei Okkultist, auch für Forrester ist diese Zuschreibung selbstverständlich. In De Subtilitate allerdings bemüht sich Cardano beständig, alle Erscheinungen, gerade auch die rätselhaften, auf natürliche Ursachen zurückzuführen. Über Erasmus von Rotterdam hebt er lobend hervor, er sei fast frei von Aberglauben (»minimè superstitioso«). An zahllosen Stellen äußert er sich kritisch gegenüber Leuten, die von Geistererscheinungen, Dämonen oder dergleichen sprechen. Wenn ihm seriös erscheinende Leute über solche Dinge berichten, nimmt er diese Berichte ernst, aber er schließt sich ihnen nicht an. Er glaubte an Horoskope, Schutzgeister und Engel, war nicht frei von Aberglauben, aber er war wie es scheint in dieser Hinsicht weitaus fortschrittlicher als die meisten seiner Zeitgenossen.

Vielleicht war Cardano aus aufgeklärter Perspektive in einigen Punkten zu okkultistisch, aus religiöser Sicht hingegen teilweise zu aufgeklärt. Ein Satz in der ersten Auflage von De Subtilitate führte zu langanhaltendem Streit: 1754, also über zweihundert Jahre danach, veröffentlichte Lessing eine Schrift mit dem Titel »Rettung des Hieronymus Cardanus«. Darin geht es darum, dass Cardano im elften Buch beim Vergleich der Weltreligionen zu dem Urteil kommt, dass jeder selbst entscheiden solle, welche Religion den Sieg davontrage. Diese Passage findet sich zwar nicht mehr in der zweiten und dritten Auflage, aber es wurde von christlicher Seite für sehr lange Zeit als Skandal angesehen, dass jemand es wagte, die Gleichwertigkeit der Religionen auch nur anzudeuten. Eine solche Haltung zu verteidigen, passt wiederum gut zum Autor des »Nathan«. Lessings Verteidigungsschrift steht zugleich dafür, dass Cardano zu dieser Zeit zwar umstritten, aber offenbar noch sehr prominent und relevant war.

Das Ende der Renaissance – ein Leben in einer Zeit des Umbruchs

Cardano ist ein bedeutender Vertreter der Renaissance, die zu den faszinierendsten Epochen der europäischen Geschichte gehört. Es war die Zeit der Kunst und der Kultur, die zuvor alles dominierende Religion rückte in den Hintergrund, der Mensch trat ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Konzept der Individualität entstand, verkörpert durch die Künstler und Genies dieser Zeit. Die in der Malerei damals neu entwickelte Zentralperspektive versinnbildlicht diese Veränderung: Alles war von nun an auf den einen Menschen, auf die einzelne Person ausgerichtet. Es war die Zeit, in der schließlich auch der Fortschritt erfunden wurde, das wissenschaftliche Denken: Statt wie zuvor ausschließlich auf die Autoritäten Bibel und antike Autoren zu schauen, versuchte man nun die Welt durch Erfahrung und Experimente zu begreifen. Cardano ist für diesen Umbruch ein sehr gutes Beispiel: Einerseits ist für ihn Aristoteles noch die größte Autorität (oft ist er für ihn einfach nur »der Philosoph«), andererseits stellt er bereits viele seiner Ansichten in Frage und vertraut lieber auf seine eigenen Erfahrungen und zahllosen Experimente.

Cardano lebte, wie wir heute, in einer Zeit des Umbruchs: Erst seit wenigen Jahrzehnten war die Neue Welt bekannt, beinahe täglich brachten die Seefahrer neue Waren, neue Pflanzen, neue Tiere, neues Wissen nach Europa. Zugleich hatten der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Karl V., und der französische König Franz I. Norditalien zum Schauplatz ihrer kriegerischen Auseinandersetzungen gewählt, ihre Truppen plünderten und verwüsteten das Land und die Städte. Immer wieder brachen Pestepidemien aus. Wirtschaftlich ging es bergab, nicht nur durch Krieg und Pest: Der Welthandel verlagerte sich zunehmend, weg vom Handel über das Mittelmeer und den Orient mit Städten wie Venedig als zentraler Schaltstelle, hin zum Handel über den Atlantik mit Spanien und Portugal als Drehpunkten. Die italienischen Städte, Fürsten und Mäzene verloren dadurch an Macht und Reichtum, es bedeutete zumindest in Nord­italien das Ende der Renaissance.

Von diesen Ereignissen war Cardano unmittelbar betroffen. Viele Menschen aus seiner nächsten Umgebung starben an der Pest, für seine Tätigkeit als Professor an der Universität Pavia erhielt er niemals auch nur einen Cent – die Universität hatte einfach kein Geld, die Zeiten waren schlecht. Zeitweise hielt er sich daher mit Würfeln und anderen Glücksspielen über Wasser. Er nahm dies zum Anlass, die historisch erste mathema­tische Wahrscheinlichkeits- und Spieltheorie zu entwickeln. Später machte er Karriere als Arzt, wurde berühmt und seine Heil­kunst war an europäischen Königshöfen begehrt. Im Alter von 70 Jahren wurde er von der Inquisition angeklagt und inhaftiert, den Grund der Anklage erfuhr er nicht. Die Fol­ge war ein Publikations- und Lehrverbot. Zugleich gewährte ihm der Papst eine Rente und bestand darauf, dass Cardano nach Rom umzog und sich in seiner Nähe aufhielt. In dieser letzten Zeit seines Lebens schrieb er seine Autobiografie.

Zwei weitere Namen seien kurz genannt, die für die Umbrüche dieser Zeit stehen: Cardanos Zeitgenossen Luther und Kopernikus begannen gerade erst ihre Wirkung zu entfalten, beide kommen in dem Buch vor, wenn auch nur am Rande.

De Subtilitate war, wie es scheint, der Versuch Cardanos, angesichts der Umbrüche seiner Zeit eine Gesamtschau zu wagen, alles Weltwissen unter einem Buchdeckel, unter einer Zentralperspektive zu vereinen, bevor mit der Neuzeit eine Spezialisierung, eine Fragmentierung, eine Explosion des Wissens anbrach. Das Buch selbst ist ein Beleg dafür: Die dritte von Cardano selbst besorgte Auflage von 1560 ist doppelt so umfangreich wie die erste Auflage zehn Jahre zuvor.

Es bleibt vielleicht noch die Frage, was denn der Titel De Subtilitate bedeutet, den ich für die deutsche Ausgabe erweitert habe um den Untertitel »Von der Feinheit der Welt und des Denkens«. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Forrester schreibt: »Das Bemühen, die subtilitas in den Dingen zu erfassen, führt zu einer erhöhten subtilitas in der Person, die sich darum bemüht.«

Cardano selbst sagt dazu:

»Denn in erster Linie trägt die Subtilität zur gesamten Naturerkenntnis bei, zur Kenntnis schwieriger und zur Aufdeckung dunkler Dinge, und sie hilft bis zu einem gewissen Grad bei der Auslegung aller Bücher. Sie lehrt die Stärken der technischen Fertigkeiten und zeigt einige neuartige Aspekte, die zu kennen hilfreich ist, auch von dem, was einen bedeutenden Beitrag zur Ansammlung von Reichtum leistet. Sie unterscheidet die Wahrheit zwischen den alten schwerwiegenden Ungewissheiten, zum Beispiel in der Chemie. Sie zeigt auch die erstaunlichen Werke der Natur und des technischen Könnens. Und sie stellt alte praktische Entdeckungen wieder her, die durch den Lauf der Zeit oder durch Kriege in Vergessenheit geraten sind. Sie lehrt auch, wie die für die Sinne sichtbaren Wunder zustande kommen, und zwar in allen Fällen.«

(S. 44)

Zu dieser Ausgabe

Die deutsche Version ist eine Übersetzung der Forrester-Ausgabe (die inzwischen auch online verfügbar ist) unter ausführlicher Berücksichtigung des lateinischen Originals. Es handelt sich um eine ungekürzte Leseausgabe, auf die Übersetzung des sehr reichhaltigen kritischen Apparats Forresters wurde weitgehend verzichtet, die Zahl der Fußnoten auf ein Minimum reduziert.

Dank

Ich danke den Erben von John M. Forrester für ihre Erlaubnis, das Werk ihres Vaters ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen; ich danke John Henry für seine Erlaubnis, auch das von ihm mitverfasste Vorwort zu veröffentlichen.

[1] 2022 im Regenbrecht Verlag neu aufgelegt unter dem Titel »Leben des Girolamo Cardano von ihm selbst geschrieben«.

[2] Eine spannende Reflexion über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Überwindung der Verständnisschwierigkeiten zwischen den Zeiten und Kulturen liefert eine der großartigen Erzählungen von Jorge Luis Borges: »Averroes auf der Suche«. (Averroes taucht auch öfters in De Subtilitate auf, daher erwähne ich die Geschichte.) In dieser Erzählung versucht Averroes, ein bedeutender arabischer Gelehrter des Mittelalters, ein bestimmtes Konzept aus der Antike zu verstehen, was ihm aber trotz aller Bemühungen nicht gelingt. Es bleibt ihm fremd. Doch endet die Geschichte nicht einfach mit der Feststellung einer unüberwindlichen räumlichen und zeitlichen Kluft: Der Erzähler reflektiert schließlich darüber, wie er es sich anmaßen kann, etwas über einen arabischen Gelehrten aus dem Mittelalter zu schreiben.